Dienstag, 10. Februar 2015

Was nicht passt, wird passend gemacht

Zur Ukraine-Berichterstattung deutscher Medien -
Von SEBASTIAN RANGE, 6. Februar 2015 -
„Russland führt einen Propagandakrieg“, titelt der Tagesspiegel, „Glaubt Putin die eigene Propaganda?“, fragt sich Spiegel-Online, die EU-Staaten seien „machtlos gegen Russlands Propaganda“, fürchtet die Süddeutsche, während dieZeit weiß: Moskaus „Propaganda-Apparat geht das Geld aus“. Der nun wieder entflammte Konflikt in der Ostukraine ist unzweifelhaft auch ein Propagandakrieg. Glaubt man den Schlagzeilen hiesiger Leitmedien, dann hat Moskau die Exklusivrechte auf Propaganda. Seit Beginn der Ukraine-Krise sehen sich allerdings auch die westlichen Massenmedien dem Vorwurf einer einseitigen Berichterstattung ausgesetzt. Nicht immer fiel die Reaktion souverän aus: Die Süddeutsche diffamierte daraufhin ihre sich in den Kommentarspalten austobende kritische Leserschaft als bezahlte Agenten des Kreml. (1)

Diese Woche wurden die vermeintlichen „Putin-Trolle“ wieder einmal mit neuer Nahrung gefüttert – sprich: Die letzten Tage lieferten wieder beredte Beispiele für eine verzerrte und einseitige Ukraine-Berichterstattung auch westlicher Medien. Mit der Eskalation der Kämpfe im Donbass gehören Meldungen über Gefechte, Truppenbewegungen und gezählte Tote wieder zum täglichen Repertoire der Nachrichtensendungen. So berichtete RTL-Aktuell am Mittwochabend: „Die prorussischen Separatisten haben nach Angaben des ukrainischen Militärs eine Großoffensive im Osten des Landes gestartet. In Donezk wurde auch ein Krankenhaus mit Granaten beschossen. Dabei soll es mindestens fünf Tote gegeben haben“, heißt es in der Anmoderation des Beitrags, deren Formulierung klar den Eindruck erweckt, die Separatisten hätten das Krankenhaus beschossen. Im anschließenden Bericht erfährt der Zuschauer, dass sechs Artilleriegeschosse in das Gebäude eingeschlagen sind. „Fünf Tote nach bisherigen Angaben, die Zahl könnte weiter steigen. Behandlungsräume, Krankenzimmer – völlig zerstört.“ Aus Donezk berichtet Reporter Dirk Emmerich: „Auf die Zivilbevölkerung wird hier kaum mehr Rücksicht genommen. Nach der Ankündigung beider Seiten, weitere zehntausende Soldaten zu mobilisieren, ist die Gefahr groß, dass dieser Krieg sehr bald vollends außer Kontrolle gerät.“ (2)
Den entscheidenden Hinweis, wer „hier“, also in Donezk, auf die Zivilbevölkerung keine Rücksicht nimmt, unterschlägt der RTL-Reporter. Dabei ist die Faktenlage eindeutig: Die von den Rebellen kontrollierte Großstadt steht seit Wiederaufnahme der Kampfhandlungen Mitte Januar täglich unter Beschuss durch das ukrainische Militär. Auch der Stadtteil Tekstilschik, in dem sich das Krankenhaus befindet, wurde mehrfach zum Ziel. Die unzweifelhafte Tatsache, dass sich die medizinische Einrichtung auf dem Gebiet befindet, das von den Aufständischen kontrolliert wird, bleibt unerwähnt – die Frage, warum sich die Separatisten selbst beschießen würden, soll sich dem Zuschauer wohl nicht stellen.
Der Privatsender steht mit seiner verzerrenden Darstellung, die eine Täterschaft der Separatisten nahelegt, nicht allein. Der Deutschlandfunk ging noch einen Schritt weiter. Der Sender legt nicht nur nah, sondern behauptet: „In Donezk beschießen Separatisten Krankenhäuser und einen Kindergarten“, heißt es in der Einleitung eines Berichts. (3) Später wird unter Verweis auf die Quelleinterfax.ukraine präzisiert:„In Donezk haben Rebellen zwei Krankenhäuser und einen Kindergarten unter Beschuss genommen, dabei wurden mindestens vier Menschen getötet.“ Der Radiosender berichtet zudem von einer „Rebellenoffensive“, und damit verbunden „von Angriffen auf 80 Ortschaften innerhalb der letzten Stunden“. Im Unterschied zum Deutschlandfunk unterschlägt die tagesschau auf ihrer Webseite nicht, dass diese Angaben auf das ukrainische Militär zurückgehen: „Die prorussischen Separatisten haben nach Angaben des ukrainischen Militärs rund 80 Orte innerhalb eines Tages angegriffen. Besonders umkämpft sind Debaltsewe und Donezk.“ (4)
Auch hier ist von einer „Großoffensive“ der Separatisten die Rede. Doch warum sollte sich diese auch gegen die eigene Hochburg richten, gegen das „besonders umkämpfte“ Donezk? Die Darstellung ist offenkundig unsinnig, dank ihr lassen sich jedoch auch die Kriegsopfer in Donezk der „Großoffensive“ der Rebellen zuschreiben. Richtig ist, dass die genannte Kleinstadt Debaltsewe im Fokus der Offensive der Separatisten liegt. Die Ortschaft wurde im vergangen Sommer von ukrainischen Truppen erobert um einen Keil zwischen die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu treiben. Debaltsewe ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und die kürzeste Verbindung zwischen den beiden Hauptstädten der aufständischen „Volksrepubliken“.
Dort sollen sich zwischen fünf- und achttausend Soldaten Kiews befinden, die mittlerweile praktisch eingekesselt sind, da sich die einzige Verbindungsstraße zu den restlichen Truppen in Feuerreichweite der Rebellen befindet. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) rief am Mittwoch zu einem lokalen Waffenstillstand auf, um die in der Stadt verbliebenen Zivilisten zu evakuieren.
Täuschend echt: Das ZDF berichtet aus dem Kriegsgebiet
Tage zuvor war es den Rebellen gelungen, den Vorort Wuhlehirsk (Uglegorsk) zu erobern, und damit die Schlinge um die ukrainischen Truppen enger zu ziehen. Das heute-journal des ZDF berichtete daraufhin am Dienstag über die „menschliche Tragödie“, die sich dort abspielt, über die verzweifelten Einwohner, die samt ihrer Habseligkeiten die Flucht ergreifen. (5) „Rettet uns, bitte! Oh Gott, rettet uns!”, so die Worte einer weinenden Frau, die ihr Kind auf dem Arm hält. Der Beitrag fährt mit der Beschreibung der Situation fort: „Kleinkinder werden auf Laster verladen, in der Hoffnung, sie in Sicherheit bringen zu können. Nur weg von hier. Die prorussischen Kämpfer sind auf dem Vormarsch. Sie haben einen humanitären Korridor geöffnet. Doch sicher ist hier nichts mehr“. Eine zweite Bewohnerin kommt zu Wort. „Es ist schrecklich. Alles zerstört. Die Stadt gibt es nicht mehr.”
Im weiteren Verlauf wird die Szene einer Beerdigung eingeblendet. „Trauerfeier für einen vierjährigen Jungen. Seine Mutter ist nicht dabei. Ihr musste ein Bein amputiert werden. Sie liegt im Krankenhaus. Der Vater alleine mit seinem Schmerz. 'Ich habe meinen Sohn mit eigenen Händen ausgegraben. Er wurde verschüttet und ist erstickt'“, berichtet der trauernde Vater. Der ZDF-Beitrag schließt mit den Bildern uniformierter „Kämpfer“, die eine Gruppe von Einwohnern „drängen“, „ihre Heimat zu verlassen“.
Der Fernsehbericht ist in mehrerer Hinsicht trügerisch. Dem Betrachter muss sich der Eindruck aufdrängen, alle gezeigten Bilder stammten aus Wuhlehirsk. Dem ist nicht so. Die emotionalen Bilder der Beerdigung des Kindes und die Aussagen des hinterbliebenen Vaters wurden erstmals von Human Rights Watch veröffentlicht. Nicht in der Ortschaft bei Debaltsewe, sondern in Donezk, und das bereits vor zwei Wochen, verlor der Vater seinen Sohn. Das Haus der Familie wurde von Artilleriegeschossen getroffen. Verantwortlich dafür, so ein Sprecher der US-Menschenrechtsorganisation, sei wahrscheinlich die ukrainische Armee gewesen. (6)
Auch die gegen Ende des ZDF-Berichts gezeigten Aufnahmen stammen nicht aus Wuhlehirsk. In einem am Mittwoch im Mittagsmagazin des Senders ausgestrahlten Beitrag, der dasselbe Bildmaterial verwendet, sind aus den „Kämpfern“, die der Zuschauer am Vortag noch in Wuhlehirsk verorten musste, (korrekterweise) „ukrainische Soldaten“ in Debaltsewe geworden, die nunmehr die Menschen nicht „drängen“, sondern ihnen „helfen“, das umkämpfte Gebiet zu verlassen. (7)
Das wirklich aus Wuhlehirsk stammende Bildmaterial hat das ZDF offenbar von russischen Sendern übernommen, deren Reporter vor Ort waren. Ihre Berichte wurden zur selben Zeit abgedreht, und zeigen ebenfalls die Szene der in einer Reihe anstehenden Einwohner, die auf den von den Separatisten-Milizen organisierten Abtransport in einer sicherere Gegend warten. Doch in ihrem Grundtenor unterscheiden sie sich deutlich vom Beitrag des deutschen Senders. So kommen in einem Bericht des Senders KP.RU auch die beiden im heute-journal gezeigten Frauen zu Wort – und man erfährt, was sie sonst noch zu sagen haben. Wie auch andere Einwohner machen sie die ukrainischen Truppen für die Zerstörung des Ortes verantwortlich. Diese hätten nach ihrer Flucht vor den heranrückenden Rebellen damit begonnen, den Ort von Debaltsewe aus mit Grad-Raketenwerfern unter Beschuss zu nehmen. Tagelang mussten die Menschen in ihren Kellern ausharren. Es kann kaum einen Zweifel geben, wem sie die Schuld an ihrer Lage geben: „Poroschenko, setzt dich an den Verhandlungstisch“, fordert eine Frau, während eine andere dem ukrainischen Präsidenten gleich den Tod an den Hals wünscht: „Poroschenko, geh sterben, du Idiot“. (8) Für seinen Beitrag hat das ZDF vorhandenes Bildmaterial offenbar dahingehend aussortiert, dass die Klagen der Bewohner über die Rolle der ukrainischen Armee beim Zustandekommen der rapportierten „menschlichen Tragödie“ ausgeblendet werden.
Ob sich solch selektive Berichterstattung bereits als Propaganda qualifiziert, sei dahin gestellt. In der Ukraine-Berichterstattung hiesiger Leitmedien hat sich jedoch ein Muster etabliert. Die Verantwortung des ukrainischen Militärs für zivile Opfer wird auch in denjenigen Fällen nur selten benannt, in denen die Faktenlage daran keine begründeten Zweifel zulässt – wie beim jüngsten Beschuss des Krankenhauses in Donezk. Meist wird dann lediglich davon gesprochen, dass sich beide Seiten gegenseitig der Schuld bezichtigen. Und nicht selten wird durch Wort- und Bildwahl und durch die – wie zu vermuten ist, bewusste – Auslassung wichtiger Hintergründe selbst in diesen Fällen eine Täterschaft der Separatisten suggeriert.
Städte wie Donezk, oder die nördlich davon gelegen Großstadt Horliwka (Gorlowka), werden seit drei Wochen täglich vom ukrainischen Militär beschossen. Dabei gab es hunderte Opfer unter der Zivilbevölkerung zu beklagen. Sie wiegen in der Berichterstattung nicht so schwer wie etwa die Toten von Mariupol, die am 24. Januar dem Beschuss von Grad-Raketen zum Opfer fielen. Ihr Schicksal führte nicht nur tagelang zu Schlagzeilen in den Medien, sondern rief darüber hinaus scharfe Reaktionen westlicher Regierungen hervor – Bundesaußenminister Steinmeier brachte unverzüglich neue Sanktionen gegen Russland ins Gespräch. Warum die Toten von Mariupol eine vergleichsweise große öffentliche Empörung erzeugten, liegt auf der Hand: Sie gehen nach Ansicht der OSZE auf das Konto der Rebellen – und können somit denjenigen angelastet werden, die in der Kriegsberichterstattung prowestlicher Medien als „feindlich“ markiert sind. Wenn Kiews Truppen – mal wieder (9) – wie vor Tagen in Lugansk geschehen und von der OSZE bestätigt (10), Streubomben gegen Wohngebiete einsetzen, dann ist das kaum einer Meldung wert. Und auch kein deutscher Außenminister kommt auf die Idee, wie nach dem Angriff auf Mariupol nun auch hier von „Kriegstreiberei“ zu sprechen oder gar Sanktionen gegen Kiew zu fordern. Folglich kann sich die ukrainische Regierung weiterhin ungestört darin üben, alle ihren Truppen zur Last gelegten Schandtaten als russische Propaganda abzukanzeln – und sich dabei auf die argumentative Schützenhilfe westlicher Massenmedien verlassen.


Anmerkungen
(5) heute-journal, ausgestrahlt am 03. Februar 2015, www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2334968/ZDF-heute-Sendung-vom-03-Februar-2015
(6) Human Rights Watch, „Ukraine: Mounting civilian casualties“, veröffentlicht am 02. Februar 2015, https://www.youtube.com/watch?v=IK8P9Gp9TKg
(8) Beitrag mit englischen Untertiteln: https://www.youtube.com/watch?v=5MuPIBg7-d0
Beitrag mit deutschen Untertiteln: https://www.youtube.com/watch?v=YWAJYDG706U

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